Artikel von Sebastian Blum
Integration: In Taufkirchen braucht es dafür manchmal nur zwei Tore und einen Ball.
Das böse Wort, vor dem sich Dieter Kienitz ein wenig fürchtet, fällt an diesem Dienstagnachmittag in der Dreifachturnhalle im Taufkirchner Sport- und Freizeitpark genau einmal. Es ist etwa eine Viertelstunde nach Trainingsbeginn. Dieter Kienitz hat kurz zuvor den Eingang aufgesperrt, die blaue Ikea-Tasche mit den Hallenschuhen abgestellt und seine Schützlinge mit Handschlag begrüßt. Und während er sich mit den acht jungen Männern aus Afghanistan und Eritrea warm spielt und die Halle unter den kräftigen Schüssen erzittert, hat der 50-Jährige ein kleines Geständnis gemacht. Dass er auf dem Platz genau aufpasst, was er auf Deutsch sagt. Dass er im Zweifelsfall auch mal auf Englisch ausweicht, weil es „auf dem Fußballplatz auch mal vulgär zugeht“. Fünf Minuten später kracht ein Fehlpass in die Sprossenwand und ihm folgt, wie zum Beweis, ein leises „Scheiße“ nach. Doch alles halb so wild: Kienitz hat nichts gehört. Und selbst wenn – der Jugendtrainer vom SV-DJK Taufkirchen hat viel Verständnis, er strahlt innere Ruhe aus. Zumal die acht jungen Männer, wie im weiteren Verlauf klar wird, auf dem Platz deutlich entspannter und vernünftiger sind als ihre deutschen Altersgenossen. Einer kleinen Partie steht also nichts im Wege.
In Taufkirchen selbst hat man sich die nötige Portion Gelassenheit dagegen vielleicht erst Stück für Stück erarbeiten müssen: Als hier Anfang 2015 die ersten Flüchtlinge ankamen, war die zwölf Kilometer südlich von München gelegene Gemeinde darauf ebenso wenig vorbereitet wie viele andere Kommunen und Städte in der Bundesrepublik. Als kurzfristige Notlösung quartierte das Landratsamt die 200 Asylsuchenden zunächst in eben jene Dreifachturnhalle ein, in der sich Kienitz und die jungen Männer jetzt jeden Dienstag zum Fußball verabreden – für die Sportvereine eine ebenso untragbare Situation wie für die Neuankömmlinge selbst. Im Juni des vergangenen Jahres errichtete die Gemeinde deshalb auf der gut 40 Meter entfernten Zirkuswiese die bayernweit erste Traglufthalle. Entlang der S-Bahnstrecke, hinter der neuen Taufkirchner Realschule auf den Kegelfeldern, stehen zudem seit gut einem Monat sieben neue Holzhäuser, sogenannte Feel-Home-Unterkünfte. Sie bieten auf 1.820 Quadratmetern Platz für insgesamt 224 Menschen. Alles in allem beherbergt die Kommune damit aktuell (Stand: März 2016) 440 Flüchtlinge. Die Zwischenbilanz? – „Unproblematisch“, wie der Zweite Bürgermeister Alfred Widmann und der Sozialreferent der Gemeinde, Andreas Bayerle, unisono bekräftigen. Für viele Flüchtlingsfamilien beginne jetzt der normale Alltag in Taufkirchen.
Dass wieder ein Stück weit Normalität eingekehrt ist, verdankt die Gemeinde nicht zuletzt der Arbeit vieler ehrenamtlicher Bürger, die sich unter dem Dach der Caritas zum „Helferkreis Asyl in Taufkirchen“ zusammengeschlossen haben. Ohne ihre Arbeit, das wissen auch Widmann und Bayerle, bleibt die Integration vor Ort nur ein bloßes Lippenbekenntnis, wird sie zum gescheiterten Experiment. Denn neben Unterkünften brauchen die Neuankömmlinge auch Helfer, die sie an die Hand nehmen. Sie brauchen jemanden, der ihnen bei Behördengängen hilft und sie auf den staatlich finanzierten Deutschkurs vorbereitet. Jemand, der sie auf den hiesigen Arbeitsmarkt einstimmt und ihre Kinder bei den Hausaufgaben betreut. Und sie brauchen auch Menschen wie Dieter Kienitz, der sich einmal in der Woche mit Asylbewerbern ab 17 Jahren in der Halle zum Kicken trifft.
Es ist also eine schwere, wenngleich unsichtbare Last, die auf den Schultern der Helfer ruht. Dieter Kienitz merkt man sie an diesem Dienstag aber nicht an, er hat im Moment andere Sorgen. Nach etwa 45 Minuten Spielzeit steht es 7:7, sein Gegenspieler, ein kräftiger, junger Mann um die 20, hat ihn gerade getunnelt und zieht links an ihm vorbei Richtung Tor. Kienitz hat jedoch Glück. Sein Gegner scheitert beim Abschluss, am Ende gewinnt das Team des Betreuers mit 24:21. Nicht, dass das für den 50-Jährigen so wichtig wäre. Er spielt genau so, wie er mit seinen Schützlingen interagiert: rücksichtsvoll, zurückgenommen, fordernd und dennoch ohne anzutreiben. Wenn seinen Jungs ein schöner Treffer gelingt, freut er sich mit ihnen. Wenn nach einer strittigen Situation mal länger diskutiert wird, lässt er die Jugendlichen das oft unter sich ausmachen. Er weiß, dass die jungen Männer, die er einmal in der Woche für 90 Minuten betreut, eigentlich schon erwachsen sind. Dass sie Streitigkeiten untereinander schnell und sachlich lösen. Außerdem ist Kienitz zu sehr Fußballer, als dass er sich in jede kleine Debatte einmischt. Auf dem Platz kann noch so viel gestritten werden, am Ende zählt nur das Ergebnis.
Die pragmatische Einstellung des Fußballers Kienitz zeichnet auch den Betreuer Kienitz aus. „Fußball ist Fußball“, sagt der 50-Jährige, nachdem sich die jungen Männer bereits von ihm verabschiedet haben, und meint damit: Es gibt keine Unterschiede, weder auf noch neben dem Platz. Seine Mitspieler sehen das wahrscheinlich ähnlich. Denn wenn Kienitz nächste Woche erneut den Eingang aufsperrt und seine Ikea-Tüte mit den Hallenschuhen abstellt, werden sie auch wieder in der Halle stehen. Sie werden sich aufwärmen, spielen und dabei vielleicht leise das ein oder andere unanständige deutsche Wörtchen flüstern.